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11.11.2024

Gedenkveranstaltung erinnerte im Corvinushaus an die Reichspogromnächte

Holocaustüberlebender Dr. Leon Weintraub und Ehefrau Evamaria waren Ehrengäste der Stadt

11.11.2024

Am 8. November 1938 exerzierten etwa zehn unerkannte und nie dafür zur Rechenschaft gezogene Männer das, was eine Nacht später wie ein Flächenbrand, die jüdische Kultur vernichten sollte: Mündens Synagoge wurde verwüstet. Schon in diesen landesweit vollzogenen Pogromnächten blieben Leben und Gesundheit nicht verschont. Keine vier Jahre später lief der Motor der gezielten Menschenvernichtung in Fabriken des Todes, wie in Belzec, Sobibor oder Treblinka. Im letztgenannten Vernichtungslager verschwanden 700.000 bis zu 1.000.000 Menschen.

Am vergangenen Freitag und damit genau 86 Jahre nach diesen Ereignissen, durfte die Stadt Hann. Münden zur ihrer Gedenkfeier im Corvinushaus (Ziegelstraße) zwei Ehrengäste begrüßen: Der Holocaustüberlebende Dr. Leon Weintraub besuchte im Alter von 98 Jahren gemeinsam mit seiner Ehefrau Evamaria Hann. Münden, nachdem er im Niedersächsischen Landtag auf Einladung der Landtagspräsidentin Hanna Naber zu Wort gekommen war. Einer seiner Beweggründe für seinen Besuch ist die Herkunft seiner Frau, die ihren Mann auf seiner Reise in die Dreiflüssestadt begleitete. Evamaria Loose-Weintraub verbrachte ihre Kindheit und Jugend von 1946 bis 1955 in Hann. Münden. Im Alter von zwei Jahren kam sie als Heimatvertriebene aus Stettin in Münden an. Später zog es sie nach Stockholm, wo sie für das Internationale Friedensforschungsinstitut SIPRI als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitete.

Dr. Leon Weintraub bemüht sich seit über drei Jahrzehnten um die Aufarbeitung der Shoa (hebräische Bezeichnung für den Holocaust) und hat u. a. unter dem Titel „Versöhnung mit dem Bösen – Geschichte eines Weiterlebens“ die Stationen seines außergewöhnlichen Lebens als Buch verfasst. Der Kontakt zu dem Ehepaar kam über die Polizeiakademie Niedersachsen zustande. Bei einer Studienreise nach Polen im Februar 2024 lernten Studierende Leon Weintraub kennen und erfuhren, dass dieser einst an der Universität Göttingen studiert hatte.

Dr. Leon Weintraub, Häftlingsnummer 82.707, blickte am Freitagabend auf die Ereignisse in 1939 zurück, als die Sirenen in seiner Heimatstadt Lodz beim Überfall Polens durch die Wehrmacht aufheulten. Die nachfolgende Zeit des Leidens sei für ihn unbeschreiblich. Angesichts der Ereignisse im Jahr 2023 und dem Überfall der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung, bei denen die Gräueltaten sogar gefilmt worden seien, ereile ihn ein Gefühl tiefer Trauer. Es sei die größte Tragödie, die die Juden seit dem Holocaust erleiden mussten. Der Zwist zwischen Palästinensern und Israelis müsse schnellstmöglich beendet werden: „Die DNA-Forschung hat bewiesen, dass es nur eine Rasse gibt, nämlich die des Homo Sapiens: Unter unserer Haut, egal welche sie Farbe sie auch hat, gibt es keine Unterschiede. Deshalb habe ich noch Hoffnung, dass der gesunde Menschenverstand irgendwann siegen wird. Friedlich miteinander zu leben, kostet keinen Cent. Kriegerisches Handeln in Verbindung mit Aufrüstung dagegen schon. Dieses Geld könnte eine viel bessere Verwendung finden“, so der 98-Jährige.

Bürgermeister Tobias Dannenberg hielt fest: „Es ist unser aller Verantwortung, die Erinnerung an die schrecklichen Verbrechen des Holocaust wach zu halten, das Unrecht zu benennen und daraus die Mahnung abzuleiten, sich für Frieden, Menschlichkeit und gegenseitigen Respekt einzusetzen. Die Vergangenheit darf niemals vergessen werden, denn nur durch die Erinnerung an die dunkelsten Stunden unserer Geschichte können wir sicherstellen, dass sie sich nicht wiederholt. Verpflichten wir uns erneut dazu, für eine Welt einzustehen, die auf Toleranz, Mitgefühl und der Achtung der Würde jedes Menschen gründet.“

Im Anschluss begleiteten die Zuhörerinnen und Zuhörer Evamaria und Leon Weintraub zur Gedenk-Stele am historischen Rathaus. Dort skizzierte Stadtarchivar Stefan Schäfer die lokalen Ereignisse der Reichspogromnacht 1938 mit ihren persönlichen Schicksalen, die sich als Flächenbrand auf ganz Deutschland ausgeweitet hatte. Anschließend legten sie zum Gedenken an die Opfer des Nazi-Regimes Kieselsteine ab. Ermöglicht wurde die Geste vom Verein „Erinnerung & Mahnung“.

Zur Person Dr. Leon Weintraub

Dr. Leon Weintraub, geboren 1926 in Lodz, wurde Ende 1939 mit seiner jüdischen Familie in das Ghetto des nun „auf Befehl des Führers“ in Litzmannstadt umbenannten Ort gepfercht. 1944 nach Auschwitz-Birkenau verschleppt, sollte er mehrere Konzentrationslager als Arbeitssklave durchlaufen. Befreit nahe der physischen und psychischen Vernichtung mit einem Körpergewicht von 35 Kilogramm, musste er sich nach körperlicher Gesundung sein Leben aufbauen. Leon Weintraub liefert in seinem Zitat „Guter Wille, gegenseitiger Respekt und die Bereitschaft zu Zugeständnissen sind die unerlässliche Bedingung für eine befriedigende Lösung von Konflikten“ den Schlüssel, wie selbst in tiefster Aussichtlosigkeit Konflikte einer Art Heilung zugeführt werden können. Geleitet vom Motiv, Menschen das Leben zu schenken, wurde er Gynäkologe und promovierte in Warschau. Mittlerweile in Stockholm lebend, beschäftigt ihn der Gedanke, das Geschehene nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Autor/in: M. Simon / Pressestelle Hann. Münden
Quelle: Fachdienst Kultur

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